Yasuhiro Ogawa — Betörende Stille
Baden — Ein Einsamer am Tresen, getaucht in grüngelbes Neonlicht in Hopper’scher Manier. Aufgeschreckte Krähen vor diffusem, bläulichem Schneegestöber. Innig Umarmende neben einem wartenden Zug in Schwarz-weiss. Yasuhiro Ogawa schafft Szenerien, schön und schaurig zugleich: Die schwarzen Umrissflächen und gezielten Unschärfen abstrahieren Orte, während die kräftigen Farben einen dramatischen Kontrast setzen. Die Fotografien strahlen dabei eine mysteriöse Qualität aus und scheinen aus der Zeit gefallen. Ogawa sieht sich hierbei in der langen Tradition der japanischen Naturbeschreibung – sei es im Haiku oder im Holzschnitt – und sucht seine Motive als Reisender auf der ganzen Welt. Die Bilder sind nicht nur Ausdruck einer Haltung, sondern laden uns Betrachtende zugleich zum Einfühlen in diese betörende Stille ein.
Kunstbulletin "weekly #81", 09.02.2025
WEG IST WEG: Siebzig Kunstschaffende im Space 25 in Basel
Basel — Die Ausstellung WEG IST WEG zeigt, dass der vermeintlich simple Linolschnitt facettenreicher ist, als im ersten Moment erwartet. Zugleich bietet die alphabetische Hängung von rund 150 Blättern einen Überblick über die Basler Kunstschaffenden von A wie Aeschbach bis Z wie Zeltner.
Wer erinnert sich nicht an die einschüchternden, faszinierenden, spitzen und scharfen Werkzeuge für den Linolschnitt in der Primarschule, und die endlos ermahnenden Instruktionen, bevor es losging. Diese Drucktechnik ist wohl die demokratischste und wird vielleicht deshalb von arrivierten Kunstschaffenden nur selten genutzt…
Wie bedauerlich das ist, zeigt die Ausstellung WEG IST WEG Im Space 25, welche Basler Kunstschaffende versammelt. Nach dem Konzept von Peter Olpe und Thomas Dettwiler – jeder schafft im selben Format vier Abzüge für einen einheitlichen, erschwinglichen Preis – wuchs die Anzahl der Ausgestellten auf 70 Beteiligten mit 148 Arbeiten. Eine Auswahl, die in einfachem Schwarzweiss und eng in einer Reihe gehängt, dank den langen Räumen des Space 25 an der Rebgasse überzeugend funktioniert!
Alphabetisch geordnet, lassen gewisse Handschriften wie die geometrischen Formen auf einen Schöpfer Daniel Göttin oder Werner von Mutzenbecher, die rautenförmigen Linienmuster auf Maja Rieder oder die bedrohlichen wolf- oder schakalartigen Köpfe auf Annette Barcelo schliessen. Daneben sind aber auch konzeptuelle Ansätze zu sehen wie Nico Müller, der den minimalsten Eingriff suchte und die Kanten der Platte anschliff, was kaum merklich die Schärfe bricht. Den Gegenpool bilden expressive Blätter, etwa Sabine Weishaupt, deren Personengruppen oder einsam Wartende in der Metro ihre Spuren der Bearbeitung offen zeigen.
Diese sehenswerte Schau im «Kunstsommerloch» ist ein Plädoyer für diese ebenso ehrliche wie vielfältige Drucktechnik und bietet einen Einblick in die breite Basler Szene zugleich, wobei der Altersunterschied zwischen jüngster und ältester Position ganze sieben Jahrzehnte beträgt!
AICAramba — der Blog von AICA Schweiz, 16.08.2024
Katrin Hotz und Sonja Kretz — Frisch pigmentiert und kristallisiert
Brugg — Kreuz und quer gehängt, entfernt an bunte, löchrige Wäscheteile erinnernd, nehmen die Papiere von Katrin Hotz den niederen Raum förmlich ein, während sich die braunen und weissen Bruchstücke von Sonja Kretz auf einer Plattform in der Raummitte im Obergeschoss behaupten. In der Ausformung gegensätzlich, sind beides dennoch Material-Versuchsanordnungen: Einmal versteift hochpigmentierte Acrylfarbe feine Papierbahnen, die gerissen, zerknittert oder geschnitten grossformatige Überlagerungen und Schichtungen in den Raum tragen. Einmal kristallisiert Gips, verbindet sich mit Karton und Beton zu kleinen Körpern oder tektonischen Fragmenten. Beiden Gruppen gemein ist, dass sich die materielle Faszination in der unmittelbaren Anschauung voll entwickelt.
Kunstbulletin "weekly #40", 21.03.2024 / AICAramba — der Blog von AICA Schweiz
Kunstbulletin "Notebook", 06.09.2023
https://www.kunstbulletin.ch/notebook/perfect-vision
Elise Corpataux — Emotionales Erinnern
Freiburg — ‹Life isn’t good it’s excellent›: ein Titel, fast verstörend fröhlich... Entsprechend kondensiert Elise Corpataux (*1994) in ihren kleinen Gemälde-Collagen Malerei, mit Drucktechniken applizierte Babyfotos sowie «Letterpress» zu vielschichtigen Stimmungsbildern. Diese wecken Assoziationen an persönliche Nähe, Familie, gar verflossene Liebe, ohne in den Kitsch zu kippen. Eine subtile Bildsprache der Künstlerin, die trägt. Dies nicht zuletzt, da sie schon zu Beginn der Ausstellung bei Friart in der Gegenüberstellung zweier Leinwände die Künstlichkeit unseres Wunschs nach dem grossen Gefühl inszeniert: Ein Publikum blickt auf ein Gemälde, auf dem in theatralischem Licht ein «dahingehauchter» Songtext «B-b-b-b-baby» erkennbar wird. So banal diese Zeile ist, sie geht einem nicht aus dem Kopf und lässt darüber rätseln, was hinter den «persönlichen» Universen der Künstlerin steckt.
Kunstbulletin "Notebook", 06.07.2023
https://www.kunstbulletin.ch/en/notebook/elise-corpataux-emotionales-erinnern
Kunstbulletin 1-2/2023
Besprechung
Das Museum Langmatt zeigt erstmals in der Schweiz die aktuelle Malerei Mark Wallingers und setzt so den Dialog zwischen heutigen Positionen und dem Bestand französischer Impressionisten fort. Gleichzeitig hat es sich einen cleveren Denker ins Haus geholt, der mit den Mythen der Malerei an sich spielt.
Baden — Mark Wallinger (*1959, Chigwell), Biennale-Teilnehmer und Turner-Preis-träger, ist eigentlich für andere Arbeiten bekannt als die Art von Malerei, die aktuell im Museum Langmatt zu sehen ist … Und, ist es denn überhaupt Malerei? Man stutzt! Im Hauptsaal empfängt einen die Serie ‹Action Paintings›, für welche der Londoner Künstler seine Hände in silberne Farbe eintauchte. Die «leuchtenden» Gesten auf den schwarzen Leinwänden wirken ein wenig wie die Spuren freudiger Kindergärtler:innen, die mit Fingerfarben auf eine Scheibe losgelassen wurden – wenn auch «edeler» aufgrund der Grossformate, des Hell-Dunkel-Kontrasts. Zudem spielt Wallinger mit Format und Symmetrien, indem er die Dimension der Leinwände an seinem Körper und der Armlänge ausrichtete und sie bei der Arbeit gezielt drehte.
Technik und Material der ‹Proteus Paintings›, vordergründig abwechslungsreiche polychrome Arbeiten im Format A1, sind ebenso spielerisch: Buntes Plastilin wurde auf Gaze auf Holz aufgetragen. Im Lockdown mit beschränktem Platz habe er gemerkt, dass Plastilin auch auf der Basis von Leinöl funktioniere, worauf es «kein Halten» mehr gegeben habe, so Wallinger. Es entstanden vielfarbige Werke mithilfe von Hitze und Terpentin. Mehr geknetet als gemalt, funktionieren sie in der prächtigen Villa als Teil kontrastierender Seherfahrungen: Sie lassen sich etwa als Gegenstück zu Monets impressionistischer Haltung lesen oder nehmen vermeintlich die detailreichen Tapeten oder Aderstrukturen im Marmor auf …
Beide Serien sind, obwohl ohne Pinsel entstanden, für Grundfragen der Malerei anschlussfähig. Eine solche wirft Wallinger gezielt hintersinnig auf, indem er die eine Werkreihe mit der Tradition des Action Paintings verknüpft. Die Proteus-Serie lässt gar die Frage nach der Rolle des Künstlers, speziell Malers als intuitiven «Schöpfer» anklingen: Proteus ist antiker Meeresgott, aber auch titelgebend für ein Kapitel in James Joyces Epos ‹Ulysses›, wobei es beim Gott ebenso wie im Text, vereinfacht gesagt, um Fragen von Umformung oder Fantasie geht. Man sollte Wallinger, der als kritischer «Konzeptkünstler» bekannt wurde, nicht unterschätzen: Wenn er die Arbeit mit Plastilin im Katalog als «gute Art» von «Kunsttherapie» beschreibt, ist eine gewisse Ironie herauszuhören. Da hinterfragt der ausgebildete Maler neben dem Medium auch seine eigene Rolle und die des Künstlers – wobei der Grad der Kritik und kritischen Reflexion in der Ausstellung nie ganz ablesbar wird.
Kunstbulletin 11/2022
Besprechung
Burgdorf — Lapislazuli, so verheissungsvoll der Name, so teuer ist das Pigment und so aufgeladen dessen Geschichte: Seit rund vier Jahren arbeitet Franz Gertsch (*1930) mit dem Farbstoff, der aus dem gleichnamigen, in Afghanistan abgebauten Halbedelstein stammt. Fra-Angelico-Blau heisst er in seiner hochwertigsten Form nach alter Rezeptur, die Gertsch für das Gemälde ‹Gräser VIII› von 2019 verwendete. Auch die weiteren vier Gemälde der neuen «blauen» Serie beruhen auf Naturmotiven aus dem Repertoire des Künstlers und bilden einen Farbraum von besonderer Intensität. Nun bin ich als Kunsthistoriker angesichts der Lebensphase des Künstlers und des kunsthistorisch prägenden Pigments versucht, der Farbe eine fast metaphysische Dimension zuzuschreiben. Doch viel schöner formuliert es der Saaltext: Gertsch «gönnt sich seit 2019 das völlige Eintauchen in eine intensive ‹blau-ultramarine Phase›». Der Künstler selbst sagt zur Farbe und deren Aufladung: «Nachdem ich das erste Lapislazuli-Bild gemalt hatte, beschloss ich, einen blauen Raum zu verwirklichen – ein alter Traum von mir. Manch mystische Eigenschaft wird dem blauen Stein zugesprochen. Das hat sicher meine Wahl beeinflusst. Aber schlussendlich war es seine einzigartige Schönheit.»
Auch im Umgang mit den Bildvorlagen zeigt der Künstler eine freiere Praxis. Basierten die tiefblauen ‹Gräser VIII› 2019, oder ‹Blauer Sommer›, 2020, aus dem bekannten ‹Jahreszeitenzyklus› noch auf den originalen Diaaufnahmen, entstanden die neueren Gemälde ‹Gräser IX› von 2020 und ‹Blaue Pestwurz› nach Abbildungen der eigenen Holzschnitte. Ersteres sei sehr frei nach ‹Das grosse Gras› von 2001 geschaffen worden und Letzteres nach einem Dia eines Holzschnitts von 2005. Im Bildvergleich von ‹Gräser IX› mit dem dreiteiligen Druck zeigt sich auf der Leinwand ein geschlossenerer Bildeindruck und eine grössere Tiefenwirkung. Auf der Holzplatte dagegen, in der Drucktechnik begründet, ergeben sich ein einheitlicherer Farbraum und präzise abgegrenzte Weissflächen. Auf der Leinwand ist die Reduktion der detaillierten Blattstruktur zugunsten einer Betonung des Lichteinfalls mittels heller Bereiche auf den Halmen zu beobachten. Der Hintergrund zeigt weiche, fast wolkige Strukturen. Die Gräser verwandeln sich in eine Art Dickicht, wobei Halme im Gegensatz zum Vorbild plötzlich hinter einem Stängel verschwinden oder vor einem weiteren hervortreten. Franz Gertsch erklärt das Verhältnis von Malerei und Holzschnitt so: «Es ist reine Primamalerei und lässt keine Korrektur zu. Der Holzschnitt besteht aus ja und nein. Ja ist die Einkerbung mit einem Hohleisen in die Holzplatte. Nein ist die unversehrte Platte.» Die Vorstellung eines Farbfilters, der Details reduziert und farblich verfremdet, beschreibt treffend den Eindruck der Gemälde. «Mit dem Holzschnitt gelangen mir monochrome Bilder, ein alter Traum. Lange glaubte ich, dies sei dem Holzschnitt vorbehalten. Erst mit der blauen Farbe gelangen mir monochrome Malereien mit all den Möglichkeiten des Farbauftrags. Bei meinen Bildern heisst das, mit Borstenpinsel die Temperafarben in das ungrundierte Baumwollgewebe einzumassieren», sagt Franz Gertsch.
Kunstbulletin 7-8/2022
Hinweis
Gstaad — Hätten die Fotografien ‹Waldloops› von Wolfgang Voigt (*1961, Hamburg) mit ihrem digital rhythmisierten Dickicht aus Blatt- und Astwerk dem ehemaligen Hausherrn wohl gefallen? Das geräumige Chalet, wo der Fotograf Jacques Naegeli (1885–1971) ikonische Ansichten des frühen Tourismus schuf, beherbergt neu das Studio Naegeli – Galerie/Residenz/Archiv. Ein ambitioniertes Projekt von Anna Högl-Fatyanova, freie Kuratorin, und Christian Högl. Hier verbindet sich die nichtkommerzielle Arbeit mit dem Fotografie-Archiv, mit Künstlerresidenzen und einem Ausstellungsraum im Erdgeschoss und Keller, der als Galerie funktioniert.
Mit der Auftakt-Schau ‹Loop› von Voigt, dem Multimediakünstler und dem legendären Mitgründer des Technolabels ‹Kompakt›, werden Bezüge zum Ort und zum ehemaligen Hausherrn geschaffen. Die ‹Waldloops› in Kombination mit sphärischen Klängen des zugehörigen Albums aus dem Projekt ‹GAS› suggerieren eine Welt zwischen Virtualität und Wirklichkeit. Platziert im hinteren Raum mit Blick auf eine alte Tanne – hätte dies Naegeli sicher gefallen, war er doch ebenso ein weltoffener Reisender wie einer der ersten Naturschützer im Ort.
Voigts Arbeit wird geprägt durch die Übertragung minimalistischer Strukturen, ‹Patterns› oder Loops, aus seiner Musik in die bildnerische Praxis: sei es in der Arbeit mit Fotografien oder auch der Malerei. Eine solche dominiert den Hauptraum mit grossen Fenstern zur Promenade. ‹Platine 2› von 2008, rund 2,5 Meter hoch, zeigt sich wiederholende abstrakte Motive. Kennt man Voigts Faszination für die Pop-Art, erinnern sie farblich an Warhols legendäre Suppendosen. Gemalt auf die silbrigen Innenflächen von Tetra Paks referenzieren sie wiederum auf technische Bereiche.
Im Keller, an einem Monitor mit Beispielen aus der Serie ‹Digitale Bilder› vorbei, geht es zum eindrücklichsten Raum: Im Tresor, Überbleibsel einer eingemieteten Bank, lauscht man fast weltabgeschieden den ‹Gstaad Loops›, in denen Voigt Alphornklänge verarbeitet hat, und bestaunt unveröffentlichte Papierarbeiten aus den freieren Acrylmalerei-Serien ‹Datenzauber› und ‹Rückverzauberung›.
Das ‹Studio Naegeli› wagt von der touristischen und familiären Vergangenheit zur aktuellen Kunst einen Brückenschlag, der dem Ort auch einen kulturellen Mehrwert bietet – mit der Einladung von Wolfgang Voigt gelingt der Auftakt.
Kunstbulletin 1-2/2022
Besprechung
Hinweis
Bern — Durch ein historisches Tor, Reihen von Grabstätten entlang, fährt ein Bus zu einer gigantischen Betonkonstruktion. Archaische Flachdächer in einer Parklandschaft krönen die komplexen Treppenhäuser, die, steigt man hinunter, Durchblicke in wilde, versenkte Gärten und verschattete, lange Gänge mit Wandgräbern freigeben. Das Video ‹Chacarita Moderna› lässt die Passanten vor dem Schaufenster des ehemaligen Lokals des Bestatters Egli in Bern an der Münstergasse allabendlich in die modernistische Erweiterung des Friedhofs Chacarita in Buenos Aires eintauchen. Diese wurde in den 1950er-Jahren nach dem Vorbild europäischer Katakomben gebaut. Unter einem Park von rund 95 Hektaren erstreckt sich auf zwei Untergeschossen eine Totenstadt mit rund 100’000 Grabnischen. Bemerkenswert ist, dass dieses Bauwerk, das im Vergleich zu anderen südamerikanischen, modernistischen Grossbauten in Europa wenig bekannt ist, von einer Architektin und Urbanistin, von Ítala Fulvia Villa (1913–1991) geplant und realisiert wurde.
Dieser Ort und seine Geschichte motivierte die französische Architektin Léa Namer (*1989) zu einer Recherche, die zu den jetzt gezeigten Videoarbeiten, Fotos wie auch zu einer Website führte. Das zweigeteilte Video leitet uns im ersten Teil ‹Inframundo› (Unterwelt) vom Eingang zur Nekropole, zeigt eine Sammlung von Einblicken, während im zweiten Teil ‹Charon› langjährige Angestellte über Leben und Tod räsonieren. Léa Namer bleibt dankenswerterweise ihrer Recherche treu: Denn obschon die Architektin Villa damals mit der Avantgarde von Argentinien sowie Le Corbusier in Kontakt stand, ist über sie nur relativ wenig bekannt.
Da in Coronazeiten andere geplante Präsentationen wegfielen, lud der ‹Affspace› in Bern die Französin ein, ihr Projekt im benachbarten, temporär bespielten Raum vorzustellen, wo ein alteingesessener Bestatter residiert hatte. Das Programm des ‹Affspace› – ein «Ort für die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Architektur, Stadt und Landschaft» –, das Architektin Paula Sansano und Kuratorin Meret Arnold verantworten, ist breit: Es umfasst Ausstellungen wie diejenige der Künstlerin Mireille Gros (*1954, Aarau, lebt in Basel und Paris) im letzten Oktober oder im Januar die Übertragung des Norient Film Festival. Vieles musste im letzten halben Jahr zwar spontan angepasst werden, dennoch ist die lebendige Programmierung spürbar von einem Geist des «Jetzt-erst-recht» geprägt
Kunstbulletin 4/2021
Fokus
Im Foyer des Kunsthauses Pasquart in Biel empfängt einen die Arbeit ‹Ohne Titel (Verwirrung)›, ein charakteristisches Grossformat aus dem Jahr 2014. Diese zeigt ein violett-blaues, verschlungenes Knäuel – schrecklich-schön – vielfältige Assoziationen vom Seilgewirr bis zum Gekröse der Eingeweide weckend. Einzelne Spuren verweisen dabei auf die ganz spezielle Aquarelltechnik von Heller. Sie arbeitet mit Farbflächen, die verlaufen oder Trocknungsringe bilden, sich gegebenenfalls überlagern, aber sie setzt keine Punkte oder Pinselstriche.
Kunstbulletin 9/2019
Besprechung
Ausgeweidete Gerätschaften, Neonröhren und Abformungen in Latex verbinden sich in der Ausstellung von Chloé Delarue im Kunsthaus Langenthal zu einem seltsamen, manchmal etwas unheimlichen Raumeindruck. Die junge Künstlerin entwirft einen Kosmos aus wuchernder, ja gleichsam untoter Technologie.
Langenthal — Unser Bild künftiger Technologien ist clean, weiss oder mattschwarz. Tastaturen verschwinden, die Übertragung geschieht drahtlos, Kabel werden obsolet und das Bedienen wird bald von einer symbiotischen Verschmelzung abgelöst. Dagegen sind die Gebilde von Chloé Delarue (*1986) roh und legen technische «Eingeweide» frei. Ihre bisher grösste Einzelausstellung ‹Tafaa – New Rare Xpendable› im Kunsthaus Langenthal verteilt sich über das ganze erste Obergeschoss und wird zur Gesamtinstallation. Die Künstlerin kombiniert gesammelte Elemente, Neonröhren, Kabelbäume und -kanäle oder ausrangierte Bildschirme mit Latexabformungen von Objekten wie Autoreifen und von Oberflächen wie Luftpolsterfolien oder eines moosbedeckten Fabrikdachs. Ihre rätselhafte, organisch-technoide Umgebung birgt vereinzelt Hinweise auf Mensch und Tier, etwa die Hände der Künstlerin in einem Video, die an einem Bildschirm manipulieren, oder starre abgeformte Oktopusse auf einer Art Labortisch. Gewisse Abgüsse aus Naturkautschuk erinnern auch an eine zweite Haut, eine Mutation oder Verpuppung.
Delarue sagt, sie interessiere sich dabei für Phänomene wie das des Doppelgängers, welches etwa im Capgras-Syndrom auftritt, wo die Erkrankten glauben, ihr Umfeld sei durch solche ersetzt worden. Die im Titel ‹Toward a Fully Automated Appearance (TAFAA)› angedeutete Verschmelzung von Technologie und Mensch gelingt bei Delarue nicht ohne Probleme – Objekte gleichen oft Experimenten oder obskuren Hybriden. Die Gesamtkonstruktion erhält ein unheimliches Eigenleben mit einem Kabelgewirr wie Nervensträngen, mit den aus der Wand austretenden Nebelschwaden und den abgeschälten Latexabgüssen in ihrer latenten Körperlichkeit. Die Kabelbäume wiegen sich vor den verbauten Lüftern und die Wärme, welche die integrierten Infrarotlampen abstrahlen, wird spürbar.
Delarues Arbeiten scheinen teilweise im Zerfall begriffen und werfen Fragen nach Zeitlichkeit auf. Im getäferten ehemaligen Stadtschreiberbüro steht eine Art Druckmaschine mit einem Tierschädel – an Tinguely erinnernd –, auf deren breitem Latexband sich die Schriftzeichen der abgezogenen Zeitungen niedergeschlagen haben. Sie wirkt wie ein Monument für die sterbende Drucktechnologie im Informationszeitalter und unterstreicht das Paradox, das in dieser vielschichtigen Ausstellung wiederholt zur Debatte steht: Haben wir es hier mit der Vision einer zukünftigen Vergangenheit oder gar schon mit einer vergangenen Zukunft zu tun?
Kunstbulletin 4/2019