Katrin Hotz und Sonja Kretz — Frisch pigmentiert und kristallisiert


Brugg — Kreuz und quer gehängt, entfernt an bunte, löchrige Wäscheteile erinnernd, nehmen die Papiere von Katrin Hotz den niederen Raum förmlich ein, während sich die braunen und weissen Bruchstücke von Sonja Kretz auf einer Plattform in der Raummitte im Obergeschoss behaupten. In der Ausformung gegensätzlich, sind beides dennoch Material-Versuchsanordnungen: Einmal versteift hochpigmentierte Acrylfarbe feine Papierbahnen, die gerissen, zerknittert oder geschnitten grossformatige Überlagerungen und Schichtungen in den Raum tragen. Einmal kristallisiert Gips, verbindet sich mit Karton und Beton zu kleinen Körpern oder tektonischen Fragmenten. Beiden Gruppen gemein ist, dass sich die materielle Faszination in der unmittelbaren Anschauung voll entwickelt.


Kunstbulletin "weekly #40", 21.03.2024 / AICAramba — der Blog von AICA Schweiz



Perfect Vision

Hinweis 

Gstaad — Zwar umgeben Gstaad nicht die Massive des Himalayas. Doch das Video aus dessen Höhen, das aus dem Werkkomplex ‹Peradam›, 2020, des Soundwalk Collective mit Patti Smith stammt, passt dennoch. Das Studio Naegeli zeigt mit ‹Perfect Vision› von Stephan Crasneanscki, Mitglied des Kollektivs, erstmals Teile von ‹Evidence› in der Schweiz, das bis März im Centre Pompidou zu sehen war. Das multidisziplinäre Projekt besteht aus Field-Recordings, Songs, Schriften, Fotos, Filmen und Papierwerken. Es folgt den Spuren de französischen Dichter Antonin Artaud, Arthur Rimbaud und René Daumal, die ihre Heimat verliessen, um Grenzen zu «überschreiten».

 

Daumals Roman ‹Mount Analogue›, 1940, eine mystische Suche nach dem fiktiven Mineral «Peradam», das Erleuchteten erscheint, diente als ein Ausgangspunkt. Das Kollektiv reiste zum verbotenen Berg Nanda Devi in Indien, recherchierte, arbeitete mit lokalen Musizierenden, so einer berühmten Sitar-Spielerin, und entwarf eine Edition in Form eines weissen Blattes, in welcher der Berg als verstecktes Wasserzeichen erkennbar wird.

Patti Smith war geistige Begleiterin aller Expeditionen, was in einer siebenteiligen Album-Edition mündete. In ‹Peradam› rezitieren sie und Charlotte Gainsbourg Texte auf eine ruhige, unnachahmliche Weise, sodass in der kleinen Schau eine fast meditative Stimmung aufkommt. 

 

kunstbulletin.ch "Notebooks" 06.09.2023

 

https://www.kunstbulletin.ch/notebook/perfect-vision





Hyperscapes 

Hinweis

Bern — Das «Aquarell» des Lauterbrunnentals mit schneebedeckten Bergriesen, saftigen Weiden sowie einzelnen Figuren trifft auf die «Aufnahme» eines Bergsees, der von schwarzen Gesteinsformationen eingefasst wird und an Mittelerde erinnert. Beide Bilder wirken idealisiert: In der Schau ‹Hyperscapes – Virtuelle Landschaft als Sehnsuchtsort?› des Kornhausforums liegt das Faksimile des Aquarells von 1820 der Berner Kleinmeister Gabriel Lory, Vater und Sohn, quasi in der Sichtachse der in-game Photography der Serie ‹Place(s)› von Pascal Greco (*1978, lebt in Genf) von 2021. Dabei ist die Lory’sche Natur ebenso gebaut und komponiert wie die virtuelle Expeditions-Szenerie Grecos aus dem Spiel ‹Death Stranding›. Die fast perfekte Grafik einer postapokalyptischen Landschaft ersetzte während der Pandemie ironischerweise gar den abgesagten Trip nach Island!

Die Beispiele zu Beginn der Ausstellung sind jedoch in ihrer «Flachheit» nicht repräsentativ für die aufwendige Schau, die das Eintauchen in kontemporäre Szenerien vom Bildschirm bis zum VR-Erlebnis ermöglicht und die technische Evolution vorführt. ‹Deer Hunter›, 1997, steht als erstes Jagdspiel für die Faszination von Echtzeitsimulationen, wenn auch noch mit pixeligem Baumbestand. Studer/van den Bergs interaktive Installation ‹Landschaft›, 2000, mit einem realen Tisch mit PC vor einer Hütten-Attrappe, aus deren Innern wir in eine digital simulierte Landschaft blicken können, ist längst ein Klassiker. Mit VR sind seit einigen Jahren wahre Fantasiewelten möglich, was sich bei Mélodie Mousset (*1981, lebt in Zürich) im Game ‹HanaHana› seit 2016 zeigt. Spielende lassen in einer surrealen Seelandschaft verschlungene Hände in die Höhe wachsen. Das Überschreiten von Schranken unserer Vorstellungswelten findet sich im philosophischen Simulationsspiel ‹Everything›, 2017, von David O’Reilly, das uns von der Galaxie in die biologische Mikroebene hinein- und wieder herauszoomen lässt. Oder auch in der Videoinstallation ‹Martian Word for World is Mother› von 2022, in welchem Alice Bucknell (*1992, lebt in London) die Besiedlung des Roten Planeten aufgrund der Klimakrise durchspielt.

 

‹Hyperscapes› birgt vielfältige Optionen, und ein thematischer Anker wie die vielleicht erst mal etwas brav anmutende «Landschaftsfrage» hilft, sich in der Fülle nicht zu verlieren. Für das kleine Haus zahlt sich dies aus und ermöglicht zugleich die Aktivierung des Publikums. 

 

Kunstbulletin 1-2/2023

 





Mark Wallinger – Action Painting aus einer neuen Perspektive 

Besprechung

 

Das Museum Langmatt zeigt erstmals in der Schweiz die aktuelle Malerei Mark Wallingers und setzt so den Dialog zwischen heutigen Positionen und dem Bestand französischer Impressionisten fort. Gleichzeitig hat es sich einen cleveren Denker ins Haus geholt, der mit den Mythen der Malerei an sich spielt.


Baden — Mark Wallinger (*1959, Chigwell), Biennale-Teilnehmer und Turner-Preis-träger, ist eigentlich für andere Arbeiten bekannt als die Art von Malerei, die aktuell im Museum Langmatt zu sehen ist … Und, ist es denn überhaupt Malerei? Man stutzt! Im Hauptsaal empfängt einen die Serie ‹Action Paintings›, für welche der Londoner Künstler seine Hände in silberne Farbe eintauchte. Die «leuchtenden» Gesten auf den schwarzen Leinwänden wirken ein wenig wie die Spuren freudiger Kindergärtler:innen, die mit Fingerfarben auf eine Scheibe losgelassen wurden – wenn auch «edeler» aufgrund der Grossformate, des Hell-Dunkel-Kontrasts. Zudem spielt Wallinger mit Format und Symmetrien, indem er die Dimension der Leinwände an seinem Körper und der Armlänge ausrichtete und sie bei der Arbeit gezielt drehte.


Technik und Material der ‹Proteus Paintings›, vordergründig abwechslungsreiche polychrome Arbeiten im Format A1, sind ebenso spielerisch: Buntes Plastilin wurde auf Gaze auf Holz aufgetragen. Im Lockdown mit beschränktem Platz habe er gemerkt, dass Plastilin auch auf der Basis von Leinöl funktioniere, worauf es «kein Halten» mehr gegeben habe, so Wallinger. Es entstanden vielfarbige Werke mithilfe von Hitze und Terpentin. Mehr geknetet als gemalt, funktionieren sie in der prächtigen Villa als Teil kontrastierender Seherfahrungen: Sie lassen sich etwa als Gegenstück zu Monets impressionistischer Haltung lesen oder nehmen vermeintlich die detailreichen Tapeten oder Aderstrukturen im Marmor auf …


Beide Serien sind, obwohl ohne Pinsel entstanden, für Grundfragen der Malerei anschlussfähig. Eine solche wirft Wallinger gezielt hintersinnig auf, indem er die eine Werkreihe mit der Tradition des Action Paintings verknüpft. Die Proteus-Serie lässt gar die Frage nach der Rolle des Künstlers, speziell Malers als intuitiven «Schöpfer» anklingen: Proteus ist antiker Meeresgott, aber auch titelgebend für ein Kapitel in James Joyces Epos ‹Ulysses›, wobei es beim Gott ebenso wie im Text, vereinfacht gesagt, um Fragen von Umformung oder Fantasie geht. Man sollte Wallinger, der als kritischer «Konzeptkünstler» bekannt wurde, nicht unterschätzen: Wenn er die Arbeit mit Plastilin im Katalog als «gute Art» von «Kunsttherapie» beschreibt, ist eine gewisse Ironie herauszuhören. Da hinterfragt der ausgebildete Maler neben dem Medium auch seine eigene Rolle und die des Künstlers – wobei der Grad der Kritik und kritischen Reflexion in der Ausstellung nie ganz ablesbar wird. 

 

Kunstbulletin 11/2022





Franz Gertsch — Ein Raum in Ultramarin 

Besprechung

Blau und monumental, so präsentiert sich aktuell der Hauptsaal im Museum Franz Gertsch. Der Namensgeber des Hauses ist seit 2019 in seinem Alterswerk in eine neue «blau-ultramarine Phase» eingetreten – ein lang gehegter Wunsch und eine neue Form der monochromen Malweise, wie er im Gespräch erläutert.

 

Burgdorf — Lapislazuli, so verheissungsvoll der Name, so teuer ist das Pigment und so aufgeladen dessen Geschichte: Seit rund vier Jahren arbeitet Franz Gertsch (*1930) mit dem Farbstoff, der aus dem gleichnamigen, in Afghanistan abgebauten Halbedelstein stammt. Fra-Angelico-Blau heisst er in seiner hochwertigsten Form nach alter Rezeptur, die Gertsch für das Gemälde ‹Gräser VIII› von 2019 verwendete. Auch die weiteren vier Gemälde der neuen «blauen» Serie beruhen auf Naturmotiven aus dem Repertoire des Künstlers und bilden einen Farbraum von besonderer Intensität. Nun bin ich als Kunsthistoriker angesichts der Lebensphase des Künstlers und des kunsthistorisch prägenden Pigments versucht, der Farbe eine fast metaphysische Dimension zuzuschreiben. Doch viel schöner formuliert es der Saaltext: Gertsch «gönnt sich seit 2019 das völlige Eintauchen in eine intensive ‹blau-ultramarine Phase›». Der Künstler selbst sagt zur Farbe und deren Aufladung: «Nachdem ich das erste Lapislazuli-Bild gemalt hatte, beschloss ich, einen blauen Raum zu verwirklichen – ein alter Traum von mir. Manch mystische Eigenschaft wird dem blauen Stein zugesprochen. Das hat sicher meine Wahl beeinflusst. Aber schlussendlich war es seine einzigartige Schönheit.»


 Auch im Umgang mit den Bildvorlagen zeigt der Künstler eine freiere Praxis. Basierten die tiefblauen ‹Gräser VIII› 2019, oder ‹Blauer Sommer›, 2020, aus dem bekannten ‹Jahreszeitenzyklus› noch auf den originalen Diaaufnahmen, entstanden die neueren Gemälde ‹Gräser IX› von 2020 und ‹Blaue Pestwurz› nach Abbildungen der eigenen Holzschnitte. Ersteres sei sehr frei nach ‹Das grosse Gras› von 2001 geschaffen worden und Letzteres nach einem Dia eines Holzschnitts von 2005. Im Bildvergleich von ‹Gräser IX› mit dem dreiteiligen Druck zeigt sich auf der Leinwand ein geschlossenerer Bildeindruck und eine grössere Tiefenwirkung. Auf der Holzplatte dagegen, in der Drucktechnik begründet, ergeben sich ein einheitlicherer Farbraum und präzise abgegrenzte Weissflächen. Auf der Leinwand ist die Reduktion der detaillierten Blattstruktur zugunsten einer Betonung des Lichteinfalls mittels heller Bereiche auf den Halmen zu beobachten. Der Hintergrund zeigt weiche, fast wolkige Strukturen. Die Gräser verwandeln sich in eine Art Dickicht, wobei Halme im Gegensatz zum Vorbild plötzlich hinter einem Stängel verschwinden oder vor einem weiteren hervortreten. Franz Gertsch erklärt das Verhältnis von Malerei und Holzschnitt so: «Es ist reine Primamalerei und lässt keine Korrektur zu. Der Holzschnitt besteht aus ja und nein. Ja ist die Einkerbung mit einem Hohleisen in die Holzplatte. Nein ist die unversehrte Platte.» Die Vorstellung eines Farbfilters, der Details reduziert und farblich verfremdet, beschreibt treffend den Eindruck der Gemälde. «Mit dem Holzschnitt gelangen mir monochrome Bilder, ein alter Traum. Lange glaubte ich, dies sei dem Holzschnitt vorbehalten. Erst mit der blauen Farbe gelangen mir monochrome Malereien mit all den Möglichkeiten des Farbauftrags. Bei meinen Bildern heisst das, mit Borstenpinsel die Temperafarben in das ungrundierte Baumwollgewebe einzumassieren», sagt Franz Gertsch.


Das fünfte Gemälde ‹Blauer Waldweg (Campiglia Marittima)› von 2021 ist nun erstmals zu sehen. Es zeigt den titelgebenden Pfad, dessen Licht- und Schattenspiel in eine schon fast abstrakte Ornamentik übergeht. Im Untergeschoss des Museums ist schliesslich ergänzend zu den fünf Malereien eine erhellende Auswahl an Holzschnitten von 2001 bis 2016 zu sehen, welche Vergleiche der Techniken zulässt – Nuancen von Tonwerten, Sättigung, Tiefe, die sich am besten bei einem Ausstellungsbesuch vor Ort selbst nachvollziehen lassen.

Gertsch ist derweil weiter beständig an der Arbeit, solange es ihm möglich ist: «Im Atelier hängen an zwei weissen Wänden zwei der monumentalen Malereien, die eine vollendet, die andere in Arbeit. Ich arbeite noch zwei bis drei Stunden täglich. Das heisst, ich male schneller als früher.» Wobei der oben erwähnte ‹Waldweg› einen weiteren Aspekt dieser Serie illustriert. Nur das erste Gemälde ‹Gräser VIII› wirkt auf den ersten Blick wie «reines» Lapislazuli. Gertsch nutzt weitere Farben, Weissmischungen oder zusätzliche Blautöne, die er verwischt oder auch gezielt mit einem Stift aufträgt. Es sind diese Feinheiten, die einem Gesamteindruck von zu viel Pathos entgegenstehen. Sie machen aus der Beschäftigung mit der symbolträchtigen Farbe weit mehr als das Spiel mit einer besonderen Wertigkeit, und es ist zu hoffen, dass weitere Gemälde aus der blauen Phase ihren Weg ins Museum finden. Franz Gertsch sagt: «Wichtig ist eine positive Beurteilung meiner Frau Maria des jeweiligen Tagwerks, denn meine Bilder sind in solche aufgebaut.» 

 

Kunstbulletin 7-8/2022




Wolfgang Voigt

Hinweis


Gstaad — Hätten die Fotografien ‹Waldloops› von Wolfgang Voigt (*1961, Hamburg) mit ihrem digital rhythmisierten Dickicht aus Blatt- und Astwerk dem ehemaligen Hausherrn wohl gefallen? Das geräumige Chalet, wo der Fotograf Jacques Naegeli (1885–1971) ikonische Ansichten des frühen Tourismus schuf, beherbergt neu das Studio Naegeli – Galerie/Residenz/Archiv. Ein ambitioniertes Projekt von Anna Högl-Fatyanova, freie Kuratorin, und Christian Högl. Hier verbindet sich die nichtkommerzielle Arbeit mit dem Fotografie-Archiv, mit Künstlerresidenzen und einem Ausstellungsraum im Erdgeschoss und Keller, der als Galerie funktioniert.


Mit der Auftakt-Schau ‹Loop› von Voigt, dem Multimediakünstler und dem legendären Mitgründer des Technolabels ‹Kompakt›, werden Bezüge zum Ort und zum ehemaligen Hausherrn geschaffen. Die ‹Waldloops› in Kombination mit sphärischen Klängen des zugehörigen Albums aus dem Projekt ‹GAS› suggerieren eine Welt zwischen Virtualität und Wirklichkeit. Platziert im hinteren Raum mit Blick auf eine alte Tanne – hätte dies Naegeli sicher gefallen, war er doch ebenso ein weltoffener Reisender wie einer der ersten Naturschützer im Ort.


Voigts Arbeit wird geprägt durch die Übertragung minimalistischer Strukturen, ‹Patterns› oder Loops, aus seiner Musik in die bildnerische Praxis: sei es in der Arbeit mit Fotografien oder auch der Malerei. Eine solche dominiert den Hauptraum mit grossen Fenstern zur Promenade. ‹Platine 2› von 2008, rund 2,5 Meter hoch, zeigt sich wiederholende abstrakte Motive. Kennt man Voigts Faszination für die Pop-Art, erinnern sie farblich an Warhols legendäre Suppendosen. Gemalt auf die silbrigen Innenflächen von Tetra Paks referenzieren sie wiederum auf technische Bereiche.


Im Keller, an einem Monitor mit Beispielen aus der Serie ‹Digitale Bilder› vorbei, geht es zum eindrücklichsten Raum: Im Tresor, Überbleibsel einer eingemieteten Bank, lauscht man fast weltabgeschieden den ‹Gstaad Loops›, in denen Voigt Alphornklänge verarbeitet hat, und bestaunt unveröffentlichte Papierarbeiten aus den freieren Acrylmalerei-Serien ‹Datenzauber› und ‹Rückverzauberung›.


Das ‹Studio Naegeli› wagt von der touristischen und familiären Vergangenheit zur aktuellen Kunst einen Brückenschlag, der dem Ort auch einen kulturellen Mehrwert bietet – mit der Einladung von Wolfgang Voigt gelingt der Auftakt.

 

Kunstbulletin 1-2/2022



Der Wolf im Visier der Kunst — Geschichte mit Widersprüchen

Besprechung


In den Alpen, vielleicht in der ganzen Schweiz, gibt es kaum ein so kontrovers diskutiertes Tier wie den Wolf. Den Macherinnen der Schau ‹Der Wolf im Visier der Kunst› gelingt dazu in der Casa d’Angel in Lumbrein, in direkter Nachbarschaft der Tiere, eine so kluge wie ausgewogene Präsentation.

Lumbrein — Für den Städter, der über ‹Il luf el visier digl art› schreibt, war der Wolf bis zur Anreise noch ein Einzelgänger, der durch ferne Wälder streift. Er wird von Anne-Louise Joël, Leiterin des Kulturhauses Casa d’Angel im Val Lumnezia, eines Besseren belehrt. Sie deutet auf mehrere umliegende Wälder, wo die Rudel zu finden seien. Gleich im Erdgeschoss ist denn auch das eindrückliche Rudel des Holzbildhauers Rochus Lussi (*1965, Stans) anzutreffen. Nur durch eine dünne Kordel vom Besucher getrennt, steht es sinnbildlich für die aktuelle Situation und ihre Probleme: Gerissene Schafe oder für Touristen gefährliche Herdenschutzhunde sind nur zwei Beispiele … Zugleich zeigt Lussi den Wolf sehr differenziert, von verspielt bis angriffig. Die Gastkuratorin Gabriele Lutz weist darauf hin, dass wir uns im Sozialverhalten des Wolfs verschiedentlich wiedererkennen – das belegt auch seine Zugehörigkeit zu unserer jahrtausendealten Kulturgeschichte, die in einer Bildpräsentation im Hauptraum angedeutet wird: Bei indigenen Kulturen ist der Wolf ein geschätztes Totemtier und in Europa findet sich mit Romulus und Remus und der Wölfin ebenfalls ein positiver Ursprungsmythos. Dennoch dominierte bei uns eine Haltung, wie sie der Naturforscher Conrad Gessner 1563 formulierte: «Der Wolff ist ein rauberisches, schädliches und frässiges Thier …», das man noch nicht einmal essen könne! Auch Abbildungen von Tobias Stimmer und Christoph Murer aus dem Buch ‹Von der Wolfjagt›, 1579, zeugen im Ausstellungskapitel ‹Historische Darstellungen› von dieser Sichtweise.

So gefürchtet er war, so begehrt war sein Balg und so gross die vom Wolf ausgehende Faszination, dass man ihm unglaubliche Kräfte zuschrieb. Grafisch überwältigend ist in der Schau der von Michael Günzburger (*1974, Bern) lebensgross lithografierte Abdruck eines Tiers, das 2014 geschossen wurde. Das Blatt fungiert als Gegenstück zum ‹Wolfsbalg› von Barbara Jäggi (*1956, Madiswil), die den Pelz abstrahiert und aus Stahlplättchen zusammengesetzt hat. Die Faszination klingt im Kapitel ‹Mythos und Märchen› etwa in den rätselhaften Blättern von Laine & Heiskanen (*1972 bzw. *1937) aus Finnland an, wo es in einem dunklen Waldszenario zur unheimlichen Begegnung zwischen einer Menschen- und einer Wolfsfigur kommt.
Insgesamt bietet die Schau mit ausgesuchten Kunstwerken auf kleinem Raum ­einen dichten Eindruck zur Kulturgeschichte des Wolfs und illustriert dabei die Aktualität dieses umstrittenen Themas, ohne Partei zu ergreifen. 

Kunstbulletin 10/2021




Eine brutalistische Nekropole aus weiblicher Hand

Hinweis

 

Bern — Durch ein historisches Tor, Reihen von Grabstätten entlang, fährt ein Bus zu einer gigantischen Betonkonstruktion. Archaische Flachdächer in einer Parklandschaft krönen die komplexen Treppenhäuser, die, steigt man hin­unter, Durchblicke in wilde, versenkte Gärten und verschattete, lange Gänge mit Wandgräbern freigeben. Das Video ‹Chacarita Moderna› lässt die Passanten vor dem Schaufenster des ehemaligen Lokals des Bestatters Egli in Bern an der Münstergasse allabendlich in die modernistische Erweiterung des Friedhofs Chacarita in Buenos Aires eintauchen. Diese wurde in den 1950er-Jahren nach dem Vorbild europäischer Katakomben gebaut. Unter einem Park von rund 95 Hektaren erstreckt sich auf zwei Untergeschossen eine Totenstadt mit rund 100’000 Grabnischen. Bemerkenswert ist, dass dieses Bauwerk, das im Vergleich zu anderen südamerikanischen, modernistischen Grossbauten in Europa wenig bekannt ist, von einer Architektin und Urbanistin, von Ítala Fulvia Villa (1913–1991) geplant und realisiert wurde.

 

Dieser Ort und seine Geschichte motivierte die französische Architektin Léa Namer (*1989) zu einer Recherche, die zu den jetzt gezeigten Videoarbeiten, Fotos wie auch zu einer Website führte. Das zweigeteilte Video leitet uns im ersten Teil ‹Inframundo› (Unterwelt) vom Eingang zur Nekropole, zeigt eine Sammlung von Einblicken, während im zweiten Teil ‹Charon› langjährige Angestellte über Leben und Tod räsonieren. Léa Namer bleibt dankenswerterweise ihrer Recherche treu: Denn obschon die Architektin Villa damals mit der Avantgarde von Argentinien sowie Le Corbusier in Kontakt stand, ist über sie nur relativ wenig bekannt.

  

Da in Coronazeiten andere geplante Präsentationen wegfielen, lud der ‹Affspace› in Bern die Französin ein, ihr Projekt im benachbarten, temporär bespielten Raum vorzustellen, wo ein alteingesessener Bestatter residiert hatte. Das Programm des ‹Affspace› – ein «Ort für die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Architektur, Stadt und Landschaft» –, das Architektin Paula Sansano und Kuratorin Meret Arnold verantworten, ist breit: Es umfasst Ausstellungen wie diejenige der Künstlerin Mireille Gros (*1954, Aarau, lebt in Basel und Paris) im letzten Oktober oder im Januar die Übertragung des Norient Film Festival. Vieles musste im letzten halben Jahr zwar spontan angepasst werden, dennoch ist die lebendige Programmierung spürbar von einem Geist des «Jetzt-erst-recht» geprägt

 

Kunstbulletin 4/2021


 

Andrea Heller — Quantensprung in eine neue Dimension

Fokus


Im Foyer des Kunsthauses Pasquart in Biel empfängt einen die Arbeit ‹Ohne Titel (Verwirrung)›, ein charakteristisches Grossformat aus dem Jahr 2014. Diese zeigt ein violett-blaues, verschlungenes Knäuel – schrecklich-schön – vielfältige Assoziationen vom Seilgewirr bis zum Gekröse der Eingeweide weckend. Einzelne Spuren verweisen dabei auf die ganz spezielle Aquarelltechnik von Heller. Sie arbeitet mit Farbflächen, die verlaufen oder Trocknungsringe bilden, sich gegebenenfalls überlagern, aber sie setzt keine Punkte oder Pinselstriche.


Kontrolle und Prozess

 

Hellers Arbeiten entstehen in einem geplanten «freien» Prozess, könnte man etwas paradox formulieren. Sie überlegt sich, welche technischen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit sie mit den Farben die Wirkung erreicht, die sie anstrebt: Muss sie das Blatt hängen oder auf dem Tisch platzieren? Dann reiht sie im Prozess die sich wiederholenden Farbflächen aneinander – allerdings ohne feste Vorstellung, zu welcher Formation das Gesamte schliesslich zusammenfindet. «Die Papierarbeiten wachsen organisch und architektonisch ...», betont sie im Interview mit der Direktorin des Pasquart Felicity Lunn im Katalog zur Ausstellung. Bemerkenswert sind Arbeiten wie ‹Wall (a specific place)› von 2019, die in Biel erstmals zu sehen sind. Hier führt Heller ihre spezifische Technik gelungen auf roher Baumwolle weiter und befragt gekonnt das Thema der Objekthaftigkeit von Papier und Textil.

  

Konstruktion und Wachstum

 

Heller interessiert das Spannungsfeld zwischen Gebautem und Gewachsenem. Dies verdeutlicht ein Vergleich der ältesten Blätter der Ausstellung, der Serie ‹Meteorit› von 2005/2006, mit der neuen, ortsspezifischen Installation ‹L’endroit de l’envers›, zwei gigantischen «Kartenhäusern», auch wenn die beiden Werke auf den ersten Blick wenig gemein haben. Die Installation nimmt fast die gesamte Höhe von 5,8 Meter der ‹Salle Poma›, des grössten Raumes des Kunsthauses, ein, während sich die Meteoriten als kompakte Formen nur auf einem Blatt Papier ausbreiten. Einzig die schwarze Farbe scheint die unterschiedlichen Werke zu einen. Die Holzplatten, auf die Heller tagelang mehrere Schichten von Chinatusche aufgetragen hatte, sind nun mit wolkigen,  dunkel verfliessenden Schlieren überzogen, während die Oberfläche der Meteoriten eine fast haptische Qualität suggeriert. Doch beides ist ein Spiel zwischen Körper, Raum und Dekonstruktion, eine wechselseitige Beziehung, die das Werk derKünstlerin wie ein roter Faden durchzieht. Die Installation offenbart ihre fragile Konstruktion erst, wenn man sie umrundet. Dabei wird sie von der geschlossenen zur offenen Form, ohne – dies suggeriert bereits der Titel – einen idealen Standort zuzulassen. Auch die Meteoriten zeigen erst aus der Nähe, dass deren «harte» Oberfläche ebenfalls aus der Grundform des Dreiecks gewachsen ist.

 

Natur und Architektur

 

Das Dreieck verweist für Heller unter anderem auf die einfachste Form der Behausung. Wie die Kuppel oder die Raute sind es solche Grundformen, die sie in Büchern der Hippie-Ära – ‹Shelter› oder ‹Nomadic Furniture› – wiederfindet und die sie inspirieren: Es sind Publikationen mit reichem Bildmaterial zu «Höhlen, Hütten, Zelten, Kuppeln» und Anleitungen zur Konstruktion solch temporärer Wohnstätten indigener Völker, wie Olivier Kaeser in seinem Katalogbeitrag ausführt. Diese Referenzen werden ergänzt durch ein persönliches Archiv aus in Zeitschriften oder im Internet gefundenen sowie eigenen Fotos. Das Archiv bildet «mehr oder weniger unmittelbar einen Nährboden für das gesamte Werk der Künstlerin», schreibt Kaeser. Seit 1998 wächst es und umfasst eine Vielfalt an Themen, von Naturkatastrophen über Politik,Landschaften und Gebäuden bis zu Kuriositäten. Etwas pathetisch könnte man vielleicht von einem «Panoptikum der Welt» sprechen. Es offenbart sich ein fast anthropologisches Interesse an Formen und Strukturen sowie Bebauungen und Eingriffen des Menschen in die Natur und an vielfältigen damit verbundenen Grundsatzthemen wie etwa Schutz und Sicherheit oder Bedrohung respektive Bedrängung. Immer schwingt in den provisorischen fragilen Bauten der Künstlerin auch die Frage nach einer Alternative zu unserer Gesellschaft mit. Darüber hinaus interessieren sie Zwischenzustände, die sich im Organischen und in der Natur ausbilden. So ist bei ihr das Hybride und Anthropomorphe in unterschiedlichster Form anzutreffen: kristallin, wachsend, wuchernd oder clusternd … Manchmal lassen sich Geschlechtsorgane, Wolken, Netze oder Vulkanlandschaften erahnen – doch immer bleiben die Formen vielschichtig. Eine zentrale Rolle spielt die Verführung, dochebenso entschiedend sind die vielen versteckten «Irritationsmomenten» ist, auf die auch die Künstlerin im Interview hinweist: «Solche  Brüche und Kontraste sind mir wichtig und ziehen sich durch alle Themen in meiner Arbeit. Sie machen eine mehrschichtige Lesbarkeit möglich.»

 

Repetition und Innovation

 

Die Ausstellung bot sichtlich Anlass und Gelegenheit, Neues auszuprobieren, wobei die 18 Monate Vorbereitungszeit, die 800 Quadratmeter und die Veränderungen in ihrem persönlichen Umfeld den Rahmen absteckten. Nach einer Zeit in Paris lebt Andrea Heller seit 2014 mit Familie und drei Kindern in der Nähe von Biel und verfügt über ein ruhiges Atelier. In Anlehnung an die DIY, die «Do it yourself»-Kultur der Siebzigerjahre, wie es Olivier Kaeser bezeichnet, ist für Heller das Atelier Ausgangspunkt ihres Schaffens. Aus dem Interview: «Das Handwerkliche hat einen zentralen Platz in meiner Arbeit, es leitet mich immer zu einem Medium. Meine Herangehensweise ist nicht akademisch, [...] Ich arbeite eigentlich recht intuitiv; tatsächlich ist die Intui­tion für mich wie ein Werkzeug, das ich bewusst verwende, um meine eigene Sprache zu verfeinern.» In einem solchen Prozess, gar einem kleinen Marathon, entstanden erstmals Gipsgüsse, die Serie ‹Terrain vague›, welche zwischen organischer Form und Landschaft oszilliert und die endlos lange Vitrine im zweiten Stock des Kunsthauses sinnvoll bestückt. Überdies hat die Künstlerin die vielleicht etwas gar bunten, gläsernen Konusformen in Auftrag gegeben und somit Vorbilder aus ihrem Werk in die dritte Dimension transformiert. Die Objekte vermögen viele zu begeistern, auch wenn sie zuweilen das Moment der Verführung etwas gar stark gewichten. Der Charakter einer fortwährenden Recherche zeigt sich auch in den Titeln der jüngsten Werke. Sowohl derjenige der Gipsarbeiten wie auch die der Textilarbeiten oder der Installation kreisen um Fragen der Ortlosigkeit, der Perspektive und des Standorts. Somit ist diese Überblicksausstellung weniger retrospektiv zu verstehen, auch wenn sich neben älteren Arbeiten sogar ein verstecktes Werk aus Studienzeiten eingeschlichen hat, wobei das Video wohl nur von künftigen Kunstbegeisterten wahrgenommen werden kann – mehr sei nicht verraten. Die Ausstellung illustriert vielmehr eine Vielzahl aktueller Entwicklungen im Werk von Andrea Heller. Sie selber bezeichnet  diese angesichts des masstäblichen Quantensprungs ihrer grossen Installation scherzhaft als «Katapult» und als Sinnbild dafür, dass sie aus «einer gewissen Starre herausgefunden» habe.

 

Kunstbulletin 9/2019





Chloé Delarue — Tafaa – New Rare Xpendable

Besprechung

Ausgeweidete Gerätschaften, Neonröhren und Abformungen in Latex verbinden sich in der Ausstellung von Chloé Delarue im Kunsthaus Langenthal zu einem seltsamen, manchmal etwas unheimlichen Raumeindruck. Die junge Künstlerin entwirft ­einen Kosmos aus wuchernder, ja gleichsam untoter Technologie.


Langenthal — Unser Bild künftiger Technologien ist clean, weiss oder mattschwarz. Tastaturen verschwinden, die Übertragung geschieht drahtlos, Kabel werden obsolet und das Bedienen wird bald von einer symbiotischen Verschmelzung abgelöst. Dagegen sind die Gebilde von Chloé Delarue (*1986) roh und legen technische «Eingeweide» frei. Ihre bisher grösste Einzelausstellung ‹Tafaa – New Rare Xpendable› im Kunsthaus Langenthal verteilt sich über das ganze erste Obergeschoss und wird zur Gesamtinstallation. Die Künstlerin kombiniert gesammelte Elemente, Neonröhren, Kabelbäume und -kanäle oder ausrangierte Bildschirme mit Latexabformungen von Objekten wie Autoreifen und von Oberflächen wie Luftpolsterfolien oder eines moosbedeckten Fabrikdachs. Ihre rätselhafte, organisch-technoide Umgebung birgt vereinzelt Hinweise auf Mensch und Tier, etwa die Hände der Künstlerin in einem Video, die an einem Bildschirm manipulieren, oder starre abgeformte Oktopusse auf einer Art Labortisch. Gewisse Abgüsse aus Naturkautschuk erinnern auch an eine zweite Haut, eine Mutation oder Verpuppung. 


Delarue sagt, sie interessiere sich dabei für Phänomene wie das des Doppelgängers, welches etwa im Capgras-Syndrom auftritt, wo die Erkrankten glauben, ihr Umfeld sei durch solche ersetzt worden. Die im Titel ‹Toward a Fully Automated Appearance (TAFAA)› angedeutete Verschmelzung von Technologie und Mensch gelingt bei Delarue nicht ohne Probleme – Objekte gleichen oft Experimenten oder obskuren Hybriden. Die Gesamtkonstruktion erhält ein unheimliches Eigenleben mit einem Kabelgewirr wie Nervensträngen, mit den aus der Wand austretenden Nebelschwaden und den abgeschälten Latexabgüssen in ihrer latenten Körperlichkeit. Die Kabelbäume wiegen sich vor den verbauten Lüftern und die Wärme, welche die integrierten Infrarotlampen abstrahlen, wird spürbar.


Delarues Arbeiten scheinen teilweise im Zerfall begriffen und werfen Fragen nach Zeitlichkeit auf. Im getäferten ehemaligen Stadtschreiberbüro steht eine Art Druckmaschine mit einem Tierschädel – an Tinguely erinnernd –, auf deren breitem Latexband sich die Schriftzeichen der abgezogenen Zeitungen niedergeschlagen ­haben. Sie wirkt wie ein Monument für die sterbende Drucktechnologie im Informa­tionszeitalter und unterstreicht das Paradox, das in dieser vielschichtigen Ausstellung wiederholt zur Debatte steht: Haben wir es hier mit der Vision einer zukünftigen Vergangenheit oder gar schon mit einer vergangenen Zukunft zu tun?


Kunstbulletin 4/2019